Dr. Viola fährt mit

Häusliche Gewalt ist oft unsichtbar. Auch für die Mitarbeiter:innen im Rettungsdienst, die häufig als erstes vor Ort sind, wenn sie zu einem „unklaren Notfall“ gerufen werden. Mit einem innovativen Schulungskonzept hat der Rettungsdienst Tirol seine knapp 3.000 Sanitäter:innen im Umgang mit Betroffenen von häuslicher Gewalt sensibilisiert. Die Schulung setzt auf Wissen, Handlungskompetenz und eine reibungslose Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern, um Betroffenen bestmöglich zu helfen. Die Ergebnisse sind vielversprechend: Über 90 Prozent der Sanitäter:innen würden die Schulung weiterempfehlen und ein Großteil fühlt sich sicherer im Umgang mit Betroffenen von häuslicher Gewalt. Das Schulungskonzept wird weiter ausgerollt. 


Gewaltprävention als zentraler Wert im Roten Kreuz  

Im Schulungsjahr 2023/2024 haben nahezu alle Tiroler Sanitäter:innen die Schulung „Umgang mit Betroffenen von häuslicher Gewalt“ absolviert. Diese Schulung versteht sich als wichtiger Baustein, um das strategische Ziel des Roten Kreuzes – eine inklusive und sichere Gesellschaft – zu erreichen. „Gewaltlosigkeit gehört zu den zentralen Werten des Roten Kreuzes und ist tief in unseren Grundsätzen verankert“, erklärt Sylvia Kranebitter, Referentin für Gesundheits- und Soziale Dienste beim Roten Kreuz Tirol. „Mit der Schulung unserer Sanitäter:innen nutzen wir einen starken Hebel, um eine gewaltfreie Gesellschaft zu fördern. Wir sehen es als unsere Aufgabe, uns um vulnerable Gruppen zu kümmern, deren Würde durch Gewalt verletzt wurde.“

Eine Schulung, die Wissen, Codewörter und Handlungsstrategien vermittelt 

Vor Durchführung der Schulung wurde unter den Sanitäter:innen eine Befragung durchgeführt. „Dabei gaben 60 Prozent an, bereits einen oder sogar mehrere Einsätze mit häuslicher Gewalt erlebt zu haben, aber nur 30 Prozent wussten, wie sie optimal handeln können,“ berichtet Isabella Mitter, Gleichbehandlungsbeauftragte in der Ombudsstelle im Roten Kreuz Tirol und für die Entwicklung des Schulungskonzeptes verantwortlich. „Unsere Schulung hat diese Handlungslücke geschlossen.“ Im Wesentlichen setzt sich die Schulung aus zwei Themenblöcken zusammen. „Zunächst vermitteln wir Hintergründe zur häuslichen Gewalt, Gewalt-Dynamiken und gehen auf die Probleme der Betroffenen ein. Wir geben den Sanitäter:innen Handlungsempfehlungen bei häuslicher Gewalt und machen sie mit Codewörtern wie ‚Dr. Viola‘ vertraut, die eine diskrete Hilfe ermöglichen. Im Anschluss beleuchten wir den Umgang mit Stress, dem Sanitäter:innen bei häuslichen Gewalt-Einsätzen ausgesetzt sein können“, erklärt Mitter. Ergänzend zur Schulung liegen in allen Fahrzeugen des Rettungsdienstes Informationskärtchen mit den Kontakten zu Unterstützungsangeboten auf. Mitter: „Bei Bedarf geben unsere Sanitäter:innen die Kärtchen an die Betroffenen aus und können sie so an die entsprechenden Beratungseinrichtungen vermitteln“. 

Klinik als Partner:in: Nahtlose Patient:innen-Übergabe sorgt für optimale Betreuung

„Die Übergabe von Gewaltbetroffenen durch das Rettungsdienst-Personal an das Klinik-Team ist ein zentraler Moment,“ betont Thomas Beck, psychologischer Leiter des Kompetenzzentrums Gewaltschutz und Gewaltschutzambulanz in den Tirol Kliniken. Beck, dessen Expertise in die Entwicklung des Schulungskonzeptes maßgeblich eingeflossen ist, gibt sich überzeugt: „Dank der Schulung verstehen Sanitäter:innen die Bedeutung der Übergabe besser, nutzen Codewörter effizient und sensibilisieren unsere Klinikmitarbeiter:innen. Gemeinsam bieten wir den Betroffenen ein Netzwerk aus Sicherheit und Unterstützung. Die enge Zusammenarbeit zwischen Rettungsdienst und Klinik ermöglicht es, Betroffenen eine rasche, effiziente, bedürfnisorientierte und multiprofessionelle Versorgung anbieten zu können. Damit wird eine Lücke bei der Betreuung von gewaltbetroffenen Menschen geschlossen“. 

Wichtige Versorgungslücke schließen

Cornelia Hagele, in deren Agenden als Landesrätin für Gesundheit der Rettungsdienst fällt, zeigt sich erfreut über die Schulung der Sanitäter:innen und die nahtlose Patient:innenübergabe zwischen Rettungsdienst und Klinik: „Gerade im Gesundheits- und Rettungswesen können wir dazu beitragen, Gewalt frühzeitig aufzudecken. Die Sanitäter:innen des Rettungsdienstes Tirol nehmen dabei eine Schlüsselrolle ein. Oft sind sie die ersten, die mit Patient:innen in Kontakt kommen – ob durch Notrufe oder durch ihre Einsätze bei akuten medizinischen Problemen. Mit gezielten Schulungen in Gesprächsführung, Beobachtung und Interpretation stärken wir zusätzlich ihre Kompetenz, um Gewalt zu erkennen und Betroffene professionell zu unterstützen“.

Gewalt eindämmen als gesellschaftlicher Auftrag 

„Gewalt gegen Frauen, aber auch gegen Kinder, Jugendliche, ältere Personen, Menschen mit Behinderung oder auch gegen Männer innerhalb von Lebensgemeinschaften ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung,“ sagt Eva Pawlata, die als Landesrätin für die Bereiche Soziales, Frauen, Integration, Kinder- und Jugendhilfe verantwortlich ist. „Die Schulungsinitiative des Rettungsdienstes in enger Kooperation mit den Tirol Kliniken zeigt, wie wichtig es ist, dass Organisationen, Politik und Einzelpersonen zusammenarbeiten. Rettungsdienst und Tirol Kliniken senden ein starkes Signal: Gewalt hat keinen Platz in unserer Gesellschaft.“

Nächste Schritte: Ausweitung auf Gesundheits- und Soziale Dienste

Die Schulung der fast 3.000 Sanitäter:innen ist erfolgreich abgeschlossen. Doch damit ist die Arbeit nicht getan. „Die Schulung, die zunächst als Pflichtfortbildung für ausgebildete Sanitäter:innen konzipiert war, fließt nun auch in die Grundausbildung von Sanitäter:innen ein. Damit nimmt der Rettungsdienst in Tirol eine bundesweite Vorreiterrolle ein“, erklärt Isabella Mitter. Und Sylvia Kranebitter ergänzt: „Zudem rollen wir die Schulung auf weitere Mitarbeiter:innen im Roten Kreuz aus. Begonnen haben wir damit bereits im Vorjahr mit Pilotschulungen in den Gesundheits- und Sozialen Diensten. Ab 2025 werden wir die Schulungen ausweiten, um auch in unseren Kleiderläden, Team Österreich Tafeln, Wohnprojekten und Jugendgruppen das Thema Gewalt zu adressieren. So erreichen wir noch mehr Mitarbeiter:innen und können nachhaltig zur Gewaltprävention und der Entstigmatisierung von Betroffenen beitragen. Mit „Dr. Viola“ im Rettungsauto und einer klaren Strategie setzt das Rote Kreuz Tirol ein starkes Zeichen gegen häusliche Gewalt.

Bild: Rettenbacher